Soziale Nachhaltigkeit ist wichtig. Doch ist es nicht so einfach zu definieren, was eigentlich soziale Nachhaltigkeit ist. Viele auf soziale Nachhaltigkeit spezialisierte Nachhaltigkeitssiegel überprüfen, inwiefern die Kernarbeitsnormen der International Labor Organisation (ILO) eingehalten werden.
Deshalb will ich in diesem Artikel einmal die Kernarbeitsnormen betrachten, was diese beinhalten und wie sie gemacht werden.
Wie entstehen die Arbeitsnormen?
Zunächst einmal: Wer ist eigentlich die International Labor Organisation? Die International Labor Organisation oder internationale Arbeitsorganisation ist eine Sonderorganisation der Vereinigten Nationen. Sie hat 187 Staaten als Mitglieder. Die ILO beschäftigt sich bereits seit 1919 damit, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Mitarbeitern aussieht. Dafür haben sie 8 Kernarbeitsnormen sowie fast 200 weitere Arbeitsstandards mit Spezifikationen zur Umsetzung herausgebracht.
Die Arbeitsnormen werden innerhalb der ILO von der International Labor Conference (Allgemeine Konferenz der internationalen Arbeitsorganisation) ausgearbeitet und verabschiedet. Die Konferenz findet einmal pro Jahr statt. An der Konferenz nehmen von allen Mitgliedsländern als Stimmberechtigte jeweils
- zwei Vertreter aus der Regierung,
- ein Vertreter der nationalen Gewerkschaftsverbands und
- ein Vertreter des nationalen Arbeitgeberverbands teil.
Das sind insgesamt ca. 750 Personen. Dazu kommen noch deren Berater – also eine riesige Veranstaltung.
Wenn die allgemeine Konferenz einen Arbeitsstandard verabschiedet hat, können die Mitgliedsländer diesen zu ratifizieren. Wenn sie den Arbeitsstandard ratifizieren, ist dieser für das Land verbindlich. Damit verpflichtet sich der Mitgliedsstaat, den Standard in die nationale Gesetzgebung umzusetzen. Theoretisch können die Arbeitsstandards auch wieder gekündigt werden – allerdings erstmalig nach 10 Jahren. Wird nicht gekündigt, verlängert er sich automatisch um 10 Jahre.
Jede Regierung muss bei der allgemeinen Konferenz auch einen Bericht über die Umsetzung der von ihnen ratifizierten Arbeitsstandards präsentieren und erhält Feedback zu ihrem Prozess. Unabhängig von der Selbstdarstellung der Regierungen überwacht die internationale Arbeitsorganisation auch direkt die Einhaltung der Arbeitsstandards.
Was sind die Kernarbeitsnormen?
Es gibt insgesamt 8 Kernarbeitsnormen. Diese stellen dabei den absoluten Minimumstandard dar. Selbst wenn alle Kernarbeitsnormen eingehalten werden, würde ich noch lange nicht von einem respektvollen Umgang miteinander sprechen. Dennoch ist es wichtig, dass es diese gibt. Dadurch wird sicher gestellt, dass zumindest die schlimmsten Praktiken verhindert werden.
Die 8 Kernarbeitsnormen gliedern sich in 4 Themengebiete.
Zwangsarbeit
Zwangsarbeit bzw. die Vermeidung der Zwangsarbeit wird in den beiden Normen 29 Forced Labor Convention von 1930 und 105 Abolition of Forced Labor Convention von 1957 behandelt. Die Norm definiert Zwangsarbeit als Arbeit oder Dienstleistung, „die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“
Alle Staaten, die dieses Übereinkommen ratifiziert haben, verpflichten sich, Zwangs- und Pflichtarbeit grundsätzlich zu beseitigen. Das Übereinkommen sieht jedoch vor, dass es (übergangsmäßige) Ausnahmen gibt. Voraussetzung ist jedoch immer, dass diese staatlich verordnet und zum Wohle der Gesellschaft sein müssen. Die Ausnahmen sind:
- Militärdienst
- übliche Bürgerpflichten wie kleinere Gemeindearbeiten
- Arbeiten, die aufgrund höherer Gewalt anfallen wie z.B. bei Krieg, Feuer, Überschwemmung, Erdbeben etc.
- Arbeiten aufgrund gerichtlicher Verurteilung
Insbesondere der letzte Punkt ist offen für Interpretation. Auch wenn eigentlich Straftäter gemeint sind, ist damit theoretisch jeder der Willkür des Staates ausgesetzt. Deshalb hat die ILO in 1957 noch einmal präzisiert, dass folgende Arten von Zwangsarbeit inakzeptabel sind:
- Kollektivstrafe
- Im Bergbau unter Tage
- Mittel politischen Zwanges oder politischer Erziehung oder als Strafe gegenüber Personen, die gewisse politische Ansichten haben oder äußern oder die ihre ideologische Gegnerschaft gegen die bestehende politische, soziale oder wirtschaftliche Ordnung bekunden
- Methode der Rekrutierung und Verwendung von Arbeitskräften für Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung
- Maßnahme der Arbeitsdisziplin
- Strafe für die Teilnahme an Streiks
- Maßnahme rassischer, sozialer, nationaler oder religiöser Diskriminierung
Gewerkschaften und Tarifverträge
Bei den beiden Arbeitsstandards 87 – Freedom of Association and Protection of the Right to Organise Convention und 98 – Right to Organise and Collective Bargaining Convention geht es darum, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils organisieren können.
Die Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber haben das Recht, sich Satzungen und Geschäftsordnungen zu geben, ihre Vertreter frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Diese Organisationen dürfen sich zu Verbänden zusammenschließen und internationalen Organisationen anschließen. Der Staat/Gesetzgebung und die Behörden dürfen dieses Recht nicht beschränken und die Organisationen nicht auflösen.
Arbeitnehmerorganisation und Arbeitgeberorganisationen dürfen sich nicht in die Gründung, Verwaltung oder Tätigkeiten des jeweils anderen einmischen, d.h. z.B. dürfen Arbeitgeberorganisationen keine Arbeitnehmerorganisationen gründen.
Des Weiteren muss der Staat Gesetze schaffen, die Arbeitnehmer vor Ungleichbehandlung wegen Vereinigungsfreiheit zu schützen: Beschäftigung und Behandlung eines Arbeitnehmers muss unabhängig von Gewerkschaftszugehörigkeit sein. Und er soll den Rahmen schaffen, damit Arbeitnehmerorganisationen und Arbeitgeberorganisationen freiwillig über den Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen verhandeln können.
Gleichzeitig gilt natürlich, dass sich alle Personen und ihre Organisationen an die lokalen Gesetze halten während sie ihr Vereinigungs- und Vertragsrecht ausüben.
Besondere Regelungen gelten für das Heer, die Polizei und Beamte. Während für Beamte dieses Übereinkommen nicht gilt, kann der Staat bestimmen, inwiefern die Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlung auch für Heer und Polizei Anwendung findet.
Diskriminierung
Um das Vermeiden von Diskriminierung geht es in den beiden Kernarbeitsnormen 100 – Equal Remuneration Convention und 111 – Discrimination (Employment and Occupation) Convention).
Die Equal Remuneration Convention ist aus dem Jahr 1951 und damit die ältere der beiden Kernarbeitsnormen. Das Ziel war, Männer und Frauen beim Entgelt gleichzustellen, d.h. für gleichwertige Arbeit das gleiche Geld zu bekommen. Dafür ist es natürlich notwendig, gleichwertige Arbeit auch identifizieren zu können. Deshalb sollen die Staaten Methoden fördern, um die erforderliche Arbeitsleistung objektiv bewerten zu können.
Die Discrimination Convention wurde 7 Jahre später verabschiedet und schließt nun nicht nur Männer und Frauen ein, sondern fasst Diskriminierung weiter. Direkt im Blick hatte die ILO die Kriterien Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensbekenntnis, politische Meinung, nationale Abstammung und sozialen Herkunft vor Augen. Darüber hinaus sieht diese Kernarbeitsnorm vor, dass jeder, der sich diskriminiert fühlt, zu einem Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmerverband oder eine andere geeignete Stelle gehen kann. Diese müssen denjenigen dann anhören und darüber entscheiden, ob eine Diskriminierung vorliegt.
Nicht als Diskriminierung gelten Schutz- und Hilfsmaßnahmen, sofern die Begünstigten aus Gründen des Geschlechts, des Alters, der Behinderung, der Familienpflichten oder der sozialen oder kulturellen Stellung besonders schutz- oder hilfsbedürftig sind. Damit ist z.B. die Sozialauswahl bei betrieblicher Kündigung mit dieser Kernarbeitsnorm vereinbar.
Diskriminierung wird nicht nur dadurch bekämpft, dass jemand klagen kann, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Stattdessen ist es wichtig, Diskriminierung vor allem vorzubeugen. Dafür sollen Bildungsprogramme unterstützt und Verbände sensibilisiert werden. Der Staat soll ein gutes Vorbild bei den eigenen Mitarbeitern sein und bei Einrichtungen der Berufsberatung, Berufsausbildung und Arbeitsvermittlung entsprechende Vorgaben machen.
Kinderarbeit
Kinder sollen durch die beiden Arbeitsstandards 138 – Minimum Age Convention und 182 – Worst Forms of Child Labour Convention geschützt werden.
Im Minimum Age Convention aus dem Jahre 1973 beschloss die ILO, Kinderarbeit abzuschaffen. Das Mindestalter beträgt 15 Jahre. Dadurch soll sicher gestellt werden, dass jeder sich körperlich und geistig voll entwickeln kann und zur Schule gehen kann. Jobs neben der Schule sind für leichte Arbeiten ab 13 erlaubt.
In für Leben, Gesundheit oder Sittlichkeit gefährlichen Berufen gilt das Mindestalter von 18 Jahren. Welche Berufe das sind, bestimmt der Staat in Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden.
Das gilt grundsätzlich für jede Arbeit. Zusätzlich üben manche Kinder Tätigkeiten aus, die von Gesetz her eh verboten sind. Deshalb sah die ILO 1999 einen zusätzlichen Regelbedarf für die schlimmsten Formen von Kinderarbeit. Damit meinen sie für alle Personen bis 18 Jahre:
- alle Formen der Sklaverei wie Kinderhandel, Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft
- Zwangs- oder Pflichtarbeit einschließlich Rekrutierung für den Einsatz in bewaffneten Konflikten
- Prostitution oder Pornographie
- Unerlaubte Tätigkeiten, insbesondere zur Gewinnung von und zum Handel mit Drogen
Die Staaten sollen diese Art der Kinderarbeit komplett beseitigen. Einerseits sollen sie sich sowohl um die aktuell gefährdeten Kinder kümmern als auch darum, dass keine neuen „nachwachsen“.
Dafür schaffen sie eine Stelle, die explizit für die Beseitigung der Kinderarbeit zuständig ist. Die soll dann alles dafür tun, um die gefährdeten Kinder zu ermitteln, zu erreichen und aus der Arbeit rauszuholen. Sind die Kinder aus der Arbeit herausgeholt, brauchen sie Unterstützung für ihre Rehabilitation und soziale Eingliederung.
Die schlimmsten Arten von Kinderarbeit werden zu einem großen Teil durch Armut verursacht. Deshalb muss die Armut bekämpft werden. Dafür verpflichten sich die Staaten, sich gegenseitig zu helfen. Die ILO sieht als langfristige Lösung nachhaltiges Wirtschaftswachstum und universelle Bildung.
Wer hat die Kernarbeitsnormen ratifiziert?
Von den 187 Mitgliedsstaaten haben 146 Staaten alle 8 Kernarbeitsnormen ratifiziert. 41 Länder haben mindestens eine Kernarbeitsnorm nicht ratifiziert.
Die umstrittensten Kernarbeitsnormen sind die beiden Standards bezüglich der Gewerkschaftsfreiheit und Kollektivverhandlungen. 32 Länder haben diese nicht ratifiziert. Dagegen sind sich beim Thema Kinderarbeit fast alle einig. Kinder sollen geschützt werden – nur sind sie sich scheinbar nicht ganz so einig, wo das Mindestalter liegen soll.
Spannend ist auch zu sehen, wie viele Standards jeweils ein Land nicht ratifiziert hat. Da sieht man, dass die meisten, nämlich 14 Länder nur 1 Norm nicht ratifiziert hat und noch einmal 11 haben zwei nicht ratifiziert.
Doch es gibt auch 6 Länder, die kaum eine Norm ratifiziert haben. Diese Länder sind:
- Marshall Inseln,
- Palau,
- Tonga,
- Tuvalu,
- Brunei Darussalam und
- USA.
Insbesondere die USA haben mich geschockt. Nicht, dass ich von der USA mehr erwarten würde als von anderen Nationen. Nein, das nicht. Doch bei den USA handelt es sich um eine Nation, die 330 Mio. Menschen vertritt und damit immerhin 4% aller Menschen der Erde.
Fazit
Als ich diesen Artikel angefangen habe, wollte ich eigentlich vor allem die 8 Kernarbeitsnormen darstellen. Je mehr ich darüber recherchiere, desto verblüffter bin ich, was die ILO eigentlich leistet. Seit über 100 Jahren kommen sie zusammen und definieren, was ok ist in Bezug auf Arbeit und was nicht.
Seit über 100 Jahren. Da war soziale Nachhaltigkeit als Wort noch gar nicht erfunden. Doch vor 100 Jahren gab es die Industrialisierung und mit ihr die Ausbeutung der Arbeitnehmer. Diese strömten zu Tausenden aus den Dörfern in die Städte, um dort ihr Glück zu suchen. In manchen Ländern früher – in manchen Ländern später.
Ich bin tief beeindruckt, was diese Organisation alles geschafft hat. Je mehr ich recherchiere, desto überwältigender finde ich es. Und nein, ich glaube nicht, dass sie unfehlbar sind. Auch haben wir in Bezug auf soziale Nachhaltigkeit noch nicht alles erreicht, was wir erreichen können. Bedenkt man jedoch, dass bei der Konferenz fast 800 Leute mit unterschiedlichen Interessen zusammenkommen und jedes Jahr ca. 2-3 Übereinkommen erschaffen, finde ich das erstaunlich.
Lasst uns das feiern, dass ILO und die Kernarbeitsnormen gibt. Denn diese verbessern das Leben von unglaublich vielen Menschen.